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"Augmented und Virtual Reality können das Staunen in den Unterricht zurückbringen"

VR- und AR-Technik eröffnen Lehr- und Lernprozessen neue Möglichkeiten. Thomas Hagenhofer vom Zentral-Fachausschuss Berufsbildung Druck und Medien war mit den Projekten SAL, SVL sowie SVL 2020 daran beteiligt, eine Lernanwendung zu entwickeln, die die entsprechenden Technologien auch in der Berufsbildung integriert. Im Gespräch mit qualifizierungdigital.de zeigt er auf, welche Vorteile sie im Lernkontext haben können - und welche Hürden VR und AR noch überwinden müssen.

Maschinenprozesse sichtbar machen, die eigentlich nur im Verborgenen stattfinden. Möglich ist dies durch Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR), wie die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) – im Rahmen des Programms "Digitale Medien in der beruflichen Bildung" – geförderten Projekte Social Augmented Learning (SAL / 2013-2016), Social Virtual Learning (SVL / 2016-2017) und SVL 2020 (seit 2017) beweisen. Projektpartner waren bzw. sind das MMB-Institut für Medien und Kompetenzforschung, die Heidelberger Druckmaschinen AG, die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V., die Bergische Universität Wuppertal sowie der Zentral-Fachausschuss Berufsbildung Druck und Medien, der mit Thomas Hagenhofer den Projektkoordinator stellt.

qualifizierungdigital.de: Herr Hagenhofer, mit welcher Zielsetzung ist das Projekt Social Augmented Learning 2013 gestartet?

Hagenhofer: Ziel des Projekts Social Augmented Learning war es, Social Learning, Mobile Learning und Augmented Reality zu einer neuen Lehr- und Lernform zu verbinden. Im Projekt wurde dazu eine neuartige Lernanwendung für Medientechnologinnen und -technologen Druck entwickelt. Durch Augmented Reality, die die Visualisierung von Abläufen an laufenden Druckmaschinen für die Lernenden ermöglicht, kann die Ausbildung von Prozessverständnis verbessert werden. Interaktive Übungen an der Maschine unterstützen die Ausprägung von Handlungskompetenzen mit Bezug zu Arbeitsprozessen, Instandhaltung und Qualitätsanforderungen.

Neben den Lernaktivitäten an der Druckmaschine werden im Projekt SAL erstellte Inhalte auch in mobilen Lernanwendungen bereitgestellt. Diese können auf Smartphones und Tablets zum selbstgesteuerten Lernen genutzt werden. Diese mobilen Lernangebote werden über die Projektwebseite und die Mediencommunity verbreitet und betreut. So wird kollaboratives Lernen ermöglicht und der Austausch über den Lernstoff intensiviert. Damit diese Lernformen nachhaltig Anwendung finden, entstand im Projekt ein Autorenwerkzeug mit dem auch Lehrkräfte und Ausbildende Inhalte erstellen und weiterentwickeln können – auch außerhalb der Druckindustrie.

Logo SVL 2020

Wie wurde dieser Ansatz mit Social Virtual Learning bzw. SVL 2020 weiterentwickelt?

Im Anschlussvorhaben Social Virtual Learning wurde die im Projekt SAL geschaffene Anwendung um eine Virtual Reality-Lernumgebung erweitert. In einer virtuellen Lernumgebung können Lernende Arbeitsprozesse unmittelbar und interaktiv an einer virtuellen Druckmaschine erleben. Hier steht vor allem das handlungsorientierte Lernen im Mittelpunkt. Entsprechend konzipierte Übungen unterstützen die Ausprägung von Handlungskompetenzen und prozeduralem Wissen.

Die in unseren Projekten erstellte Lehr- und Lernanwendung ist für die Akteure der beruflichen Bildung in der dualen Ausbildung kostenfrei. Zudem befähigen eigens entwickelte Autorenwerkzeuge Lehrende zur Individualisierung bestehender und Erstellung eigener Lernmodule.  

Das Anschlussprojekt Social Virtual Learning 2020 widmet sich seit Ende 2017 vor allem der Optimierung der Autorenwerkzeuge, verbunden mit einer Überarbeitung und Automatisierung der Content-Prozesskette von CAD-Daten. Daneben steht der Transfer der Projektergebnisse über die initial ausgewählte Druck- und Medienbranche in andere Berufsfelder im Vordergrund. Dazu wird zunächst, in Kooperationen mit Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus, die Umsetzbarkeit anhand eigener Lernmodelle evaluiert und zur Formulierung nachhaltiger, auf Standards basierender, Transferstrategien und -konzepte herangezogen.

Mann mit VR-Datenbrille vor Projektion einer 3D-Landschaft
Die durch SVL 2020 (weiter-) entwickelte VR-Lernanwendung macht es u.a. möglich, in das sonst verborgene Innere komplexer Maschinen zu blicken. Foto: Gerald Schilling © BIBB

Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit VR- und AR-Technologie erfolgreich in der beruflichen Bildung eingesetzt werden kann?

Natürlich bieten sich Virtual Reality und Augmented Reality überall dort an, wo ansonsten nicht sichtbare Prozesse und Zusammenhänge visualisiert werden können. Hier entstehen echte Mehrwerte, weil eher beschreibende Inhalte wie textliche Erläuterungen oder Schaubilder ergänzt werden können durch 3D-Modelle, die der Interaktion durch die Lernenden offenstehen. Darüber hinaus eigenen sich AR-Inhalte überall dort, wo es didaktisch sinnvoll ist, Zusatzinformationen zu realen Lernumgebungen wie einer Maschine, Bauteilen, Gebäuden oder anderen Artefakten zu geben. Aus unserer Sicht sollten Assistenzsysteme in AR immer mit der Möglichkeit gekoppelt sein, ein tieferes Verständnis von Zusammenhängen zu vermitteln und nicht auf das reine Handling beschränkt bleiben.

VR-Lernen bietet sich überall dort an, wo Inhalte nicht oder noch nicht vorhanden sind oder es von Vorteil ist, sich komplett aus der realen Welt zu entfernen, etwa aus Gefahrengründen. Dies trifft natürlich gerade auf die technisch-gewerbliche Bildung an Berufsschulen zu, aber auch auf kontextbezogene Kommunikation wie Verkaufsgespräche oder das Sprachenlernen.

 

"Virtuelle Welten sind zu mächtig, um sie nur der Spieleindustrie zu überlassen."

 

Welche Bedeutung hat der Begriff "Immersion" und welche Rolle spielt er beim Einsatz von VR- und AR-Technik im Lernkontext?

Der Begriff Immersion, der für "Eintauchen" steht, beschreibt die besondere Qualität von virtuellen Welten, computergenerierte Räume real erscheinen zu lassen. Wer in einer virtuellen Druckhalle steht, wird feststellen, dass sich das Gehirn sehr schnell auf diese neue Welt und deren Erkundung einstellt. Man vergisst einfach, dass es sich um digitale Realitäten handelt und wird neugierig auf die visuelle Darstellung und die Interaktionsmöglichkeiten.

Wir erleben in unseren Erprobungen immer wieder, dass Auszubildende durch solche Systeme besser zu motivieren sind und dass sie angeregt werden, tiefergehende Fragen zu stellen. Je mehr Sinne durch eine virtuelle Welt angesprochen werden können, je authentischer sie gestaltet ist und je mehr Interaktionen möglich sind, umso größer ist diese Wirkung. Gerade das selbständige Erkunden spielt eine große Rolle.

Welche Vorteile oder Nachteile – insbesondere im Hinblick auf die Themen Wirtschaftlichkeit und Effizienz – bieten VR- und AR-Technik für Ausbildungsbetriebe?

Wie bei jeder digital gestützten Lernform sollte genau analysiert werden, wo AR- und VR-Inhalte einen echten Mehrwert bieten. Wir haben in unseren Projekten den Ansatz gewählt, ein Autorenwerkzeug zum Dreh- und Angelpunkt der technischen Entwicklung zu machen. Unser Ziel ist es, ein Fließband, einen standardisierbaren Workflow für die Erstellung von AR- und VR-Lerninhalten zu errichten. Wer CAD-Daten von technischen Geräten besorgt hat, muss anschließend nicht noch einen 3D-Entwickler beschäftigen, um ein Lernmodul zu erstellen. Mit unserem im Projekt entstandenen Autorenwerkzeug können Lehrende und Ausbildende ohne Programmierkenntnisse ihre eigenen interaktiven Inhalte erstellen. So kann AR- und VR-Lerncontent wesentlich effizienter und kostengünstiger erstellt werden - zumal wir unser Autorentool für die duale Ausbildung in Betrieb und Berufsschule kostenfrei zur Verfügung stellen.

Inwieweit stellt der Einsatz von VR- und AR-Technik in der beruflichen Aus- und Weiterbildung eine Revolution der Wissensvermittlung dar?

Dem digitalen Lernen fehlte bisher oftmals der Wow-Effekt, das emotionale Element. Ein Stück weit wurde dies schon durch die Ansätze von Gamification und serious games aufgebrochen. Doch erst durch AR und VR werden Lernwelten wirklich immersiv, gemeinsam erlebbar und stehen dem kollaborativen Lehren und Lernen offen. Augmented und Virtual Reality können das Staunen in den Unterricht zurückbringen – das Staunen über technische Zusammenhänge, die spielerische Freude am gemeinsamen Lernen. Wir können alle nur ermuntern, sich diese Lernform genauer anzusehen, etwa im Rahmen der BMBF-Roadshow "Digitale Medien im Ausbildungsalltag".

 

"Unsere Lernanwendung wird mittlerweile von jeder fünften Berufsschule genutzt, die bundesweit Medientechnologinnen bzw. -technologen Druck ausbildet."

 

Welchen Vorurteilen gegenüber VR- und AR-Technik begegnen Sie?

Wir erleben Vorurteile gerade gegenüber den eher spielerischen Ansätzen. In unserer Bildungswelt ist Lernen immer noch eher mit Schmerzen als mit Freude konnotiert. Oft beschreibe ich das Motto unseres Projekts auf unseren zahlreichen Veranstaltungen als "Lernen und Arbeiten womit andere nur spielen" - einmal um ein wenig zu provozieren, aber auch um das Potenzial deutlich zu machen. Virtuelle Welten sind zu mächtig, um sie nur der Spieleindustrie zu überlassen. Sie können gewinnbringend in der beruflichen Bildung eingesetzt werden. Wenn uns selbst langjährige Mitarbeiter in der Druckindustrie sagen, dass sie komplizierte Zusammenhänge an einer Maschine nach der Nutzung unseres Lernmoduls erstmals wirklich komplett verstanden haben, dann macht uns das nicht nur stolz, sondern zeigt auch die riesigen Chancen auf.

Ein weiteres Vorurteil rührt aus frühen Erfahrungen mit VR-Systemen vergangener Jahre. Oftmals waren diese so langsam, dass sich bei einer großen Zahl von Nutzern die sogenannte "simulation sickness" eingestellt hat. Glücklicherweise kommt dies durch die seit etwa drei Jahren verfügbaren Lösungen fast nicht mehr vor.

Welche Hürden für VR- und AR-Technik gibt es noch?

Die Technikanschaffung für VR ist zwar nicht exorbitant kostenintensiv, schlägt aber doch mit knapp 2.000 Euro pro Station zu Buche und oftmals stellt die Akquise von 3D-Daten von Maschinen oder zur Konstruktion der Lernwelt eine hohe Hürde dar.

Workshop Social Augmented Learning in Wittenberge
Die Virtual Reality-Lernanwendug baut auf einem im Projekt SAL entwickelten Tool auf, das die Realität durch digitale Medien erweitert (Augmented Reality). Foto: Patricia Kalisch © BIBB

Können Sie Beispiele nennen, die belegen, dass der Transfer der SAL- bzw. SVL-Projektergebnisse in die Ausbildungspraxis gelungen ist?

Derzeit nutzen 22 Bildungseinrichtungen die Vollversion unsere Anwendung, zwei davon im benachbarten Ausland – in Österreich und der Schweiz. Das Interesse ist weiterhin groß, es melden sich immer mehr Berufsschulen und größere Ausbildungsbetriebe, die nach dem Test unserer Demoversion nun den kompletten Funktionsumfang nutzen möchten. Unsere Lernanwendung wird mittlerweile von jeder fünften Berufsschule genutzt, die bundesweit Medientechnologinnen bzw. -technologen Druck ausbildet.

Zudem melden sich seit einiger Zeit verstärkt Schulen außerhalb der Druckindustrie. Auf einer Fortbildung zur Nutzung von AR und VR für Lehrerinnen im Mai 2019 stammte über die Hälfte der Teilnehmenden aus anderen Sektoren.

Die zu erschließenden Potentiale sind groß. Dies können wir gar nicht alleine bewerkstelligen. Deshalb haben wir mit anderen Stakeholdern von Agenturen, Hochschulen, Verlagen, Verbänden und anwendenden Unternehmen und Schulen ein Konsortium gebildet. In Arbeitsgruppen zu Themen wie Workflow und Didaktik wollen wir gemeinsam schneller vorankommen, uns vernetzen und perspektivisch an gemeinsamen Lösungen und Konzepten arbeiten. Wer daran teilhaben und mitwirken möchte, ist herzlich eingeladen.

Bildnachweis: Gerald Schilling

​Grafik (SVL 2020-Logo): © Social Virtual Learning

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